Schreitender Mann 


   Paolo Monti / CC BY-SA(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)



 • Aniflur und Kleo sind zu Hause in der Stube.

Onkel Kleo fragt:

 

Hast du mal eine Hunderternote?

 Ich habe doch kein Geld, ich bin ja noch ein Kind.

Nicht einmal eine Hunderternote?

 Wozu brauchst du denn eine Hunderternote?

• Ich möchte dir den schreitenden Mann zeigen, l’homme qui marche?

 Was für einen schreienden Mann?

 Der schreit nicht, der schreitet. Der geht.

 Das kann doch jeder.

 Aber der ist besonders, du wirst schon sehen. Wie kann ich dir das zeigen?

 Also hast du auch keine Hunderternote im Sack.

 Ich trag doch keine Hunderternote mit mir herum, wo denkst du hin. Ich bin doch kein Hunder-tär!

 Was ist ein Hundertär?

• Der kleine Bruder vom Millionär. 

Also, wo finden wir jetzt eine Hunderternote?

 Im Internet.

• Ach ja, genau, du hast recht, schauen wir mal.



 Schau hier, da haben wir eine 100ter Note. Das da ist der schreitende Mann

 Der Dünne da? Der hat ja keine Kleider an. 

 Da hast du recht, ist mir gar nie aufgefallen!

• Na siehst du, du musst hinschauen. Ist er krank?

 Wie kommst du darauf?

• Weil er so dünn ist.

 Das stimmt, er ist sehr dünn und schmal und lang. Aber darum muss er nicht krank sein.

• Wo geht er denn hin?

 Weiss ich nicht. Vielleicht einkaufen oder zur Arbeit.

• Ohne Kleider.

 Vielleicht ist er zu Hause im Garten.

• Oder er spinnt ein bisschen und denkt nicht daran und geht einfach los.

  

 Wer hat ihn gezeichnet?

 Alberto, Alberto Giacometti. Ist aber keine Zeichnung sondern eine Skulptur. 

Alberto sagt, das ist ein Mann, der über einen leeren Platz geht. So hat er ihn gesehen, an einem sonnigen Morgen.

 So dünn und mit so langen Beinen Und ohne Kleider?

 Alberto sagt, wenn ein Mensch weit weg ist, allein auf einem grossen leeren Platz, dann sieht er so aus.

 Wie ein Manoggel.

 Eine Bohnenstange.

 Ein Strichmännchen.

 

 Schau mal die Schuhe an. Die sind gross.

 Stöckelischuhe.

 Sieht so aus, aber man sieht es nicht gut. Schauen wir mal, ob wir eine bessere Aufnahme finden, ah ja, hier unter:

 https://www.fondation-giacometti.fr/fr/database/161058/homme-qui-marche-i

 

 Er steht im Dreck!

• Meinst du?

 Ja, er geht durch den Dreck und muss immer die Schuhe aus dem Dreck ziehen. Siehst du, da klebt der Dreck!

• Ja, du hast recht, er hat Balllast an den Füssen.

 Was ist Ballast?

• Ja eben Schmutz, Gewicht, Sorgen, Mühsal. Die Last des Lebens. 

So kommt er nicht weit.

• Und trotzdem macht er Riesenschritte.

 Vielleicht sollte er kleinere Schritte machen, der magerer Vogel.

• Apropos Vogel: Er ist auf einer Platte festgemacht. Er kann nicht wegfliegen.  

 Ohne Platte könnte er gar nicht stehen. Er würde umkippen. 

• Ja, da hast du recht, die Platte hält ihn fest. Man kann auch sagen, die Erde oder der Dreck.

  Der geht gar nicht fort. Er tut nur so, als würde er wer weiss wohin gehen!

 

• Warte, wir suchen die Skulptur einer Frau. Du wirst sehen, die sieht anders aus. Hier, Moment. Wo ist sie, hier, schau, von allen vier Seiten sieht man sie.

https://www.fondation-giacometti.fr/fr/database/161068/femme-au-chariot

 

Sie geht nicht, sie steht.

• Genau.

Ist aber auch ganz dünn.

• Ganz dünn und zerbrechlich, aber zäh, so sieht Alberto die Menschen.

• Hat aber auch solche Füsse. Noch grössere!

 Du meinst, sie hat einen Klotz an den Füssen.

• Sie ist aus dem Klotz gewachsen. Wie ein Baum.  

 Nur ist der Klotz nicht die Erde. Sie steht auf einem Wagen. 

• Ach das ist ein Wagen?

 Ja, sie steht einfach da und kommt trotzdem voran.

• Aber jemand muss den Wagen ziehen, sonst fährt er nicht. 

 Wer könnte das sein? Vielleicht fährt er von alleine.

• Ja, aber ist trotzdem blöd.

 Warum?

• Sie kann nicht absteigen!