Der Nachtwandler



Der Nachtwandler legt sich hin, denn es ist noch nicht Zeit, um zu nachtwandeln. Er muss sich noch ein bisschen ausruhen, denn nachtwandeln ist anstrengend, weil man immer die Arme und Hände ausgestreckt vor sich her tragen muss. Tut man das nicht, stösst man überall an und hat am anderen Morgen blaue Flecken. Es gibt Nachtwandler, die mit geschlossenen Augen und andere, die mit offenen Augen wandeln. Der Unterschied ist einfach, der, dass die einen sehen, wohin sie gehen, wenn sie schlafen, und die andern nicht. Unser Nachtwandler hat auch schon versucht am Tag Nacht zu wandeln, aber es ist nicht dasselbe, und man holt sich schnell einen Sonnenbrand. Also blieb er beim Nachtwandeln. Es gibt aber durchaus Wandler, die sowohl am Tag als auch in der Nacht wandeln, sie heissen Tag-und-Nacht-Schlafmützen. 

Nachtwandeln kann man natürlich nicht von heute auf morgen, es braucht viel Fleiss und Disziplin und natürlich auch ein wenig Talent. Vor allem das Wandeln will gelernt sein; ein Nachtwandler schlurft ja nicht einfach so vor sich hin, er setzt seine Schritte leicht und elegant, so als würde er über den Boden schweben. Viele werden darum nie richtige Nachtwandler und bringen es höchstens zu Nachtschwärmern. Aber Nachtschwärmer sind mit Nachtwandlern nicht zu vergleichen, das ist etwa das gleiche als würde man Läuse mit Mäusen vergleichen.   


Aniflur, 2020


Also wie gesagt, bevor er nachtwandelt, legt sich der Nachtwandler noch ein bisschen hin. Er stellt seinen Wecker, denn er will ja nicht, dass er das Nachtwandeln verschläft. Meistens legt er sich, bevor er einschläft, eine Strecke zurecht, er sagt sich etwa: Heute wandle ich nur durch das Haus, oder er nimmt sich vor, das Haus zu verlassen und den Nachbar zu erschrecken. Was nicht zum guten Ton der Nachtwandlerei gehört, aber ein bisschen Spass muss auch sein. Nur immer so vor sich hinzuwandeln auf Dächern oder einsamen Parkanlagen, ist auf die Dauer langweilig und auch ermüdend, und das gerade muss ein Schlaf- oder Nachtwandler vermeiden, so komisch es tönt, denn mit der Ermüdung schwindet die Konzentration und unkonzentriert im Schlaf zu wandeln, ist gefährlich. Das ist wie beim Autofahren. Auch Alkohol verträgt es nicht, alkoholisierte Nachtwandler werden aus dem Verkehr gezogen. 

Und was mögen Nachtwandler nun am Nachtwandeln, was ist das Faszinierende daran? Sicher einmal das Abenteuer. Schlafend über eine viel befahrene Kreuzung zu gehen oder eine Bergtour zu machen, ist einfach ein anderes Erlebnis, als das Gleiche im wachen Zustand zu tun.