Friedhof Feldli
Platzprobleme hat der Friedhof keine, das nicht, man liegt hier nicht eng; die Grabsteinreihen wirken fast schon verloren zwischen den ungenutzten Wiesen. Die Steine der Familiengräber sind breiter, damit Platz ist für neue Inschriften, hier ruhen in Frieden, und dann folgen vier oder fünf Namen, alle miteinander verwandt und auch im Tod vereint, aber der Frieden wird manchmal gestört, wenn wieder ein Familienmitglied beerdigt wird. Wie das gemacht wird, weiss ich nicht. Ich müsste den Friedhofsverwalter fragen.
Einzelgräber werden hingegen nach zwanzig Jahren geräumt, aufgelassen nennt man das, darauf wird manchmal hingewiesen, mit einer Hinweistafel vor der betroffenen Gräberreihe, darum weiss ich das. Was ich nicht weiss, ist, was mit den Überresten geschieht.
Hape
Dann gibt es noch Gemeinschaftsgräber und Urnengräber und ein neues Krematorium, und dazu muss man wissen, dass es bis in die 1960er Jahre für Katholiken noch nicht die Möglichkeit gab, sich verbrennen zu lassen, ja weil doch am Jüngsten Tag die Toten auferstehen werden, um vor den Richterstuhl zu treten. Wie sollen sie das tun ohne Gebeine? Gebeine ist übrigens ein Wort, das mir als Kind Mühe bereitete, ich dachte dabei nicht an Knochen, ich dachte an Beine.
Immer öfter sieht man jetzt kleine Windrädchen auf den Gräbern, von Kindern platziert, nehme ich an, was vielleicht darauf hinweisen soll, dass wir nur Staub sind, den der Wind hierhin und dorthin treibt, oder dass auch nach unserem Tod sich alles weiterdreht.
Und immer öfter werden auch Fotos von den Verstorbenen auf die Gräber gestellt. Das gab es früher nicht, schon gar nicht in Farbe, wie ja auch die Totenbildchen schwarzweiss waren, was besser zur Trauer passte. Dafür standen auf den Gräbern zuweilen Statuen, wie der Jüngling aus Granit, der hier jetzt verlassen hinter Sträuchern steht, ein Jüngling mit einem Hut und einem Seil quer über Brust und Schulter, der zu Lebzeiten, um 1900, offenbar Bergsteiger war; das Grab ist längst verschwunden, der Jüngling aus Granit noch da.
Hape
Grablichter gibt es noch immer, immer noch sind es Kerzen, obwohl es auch Solarleuchten gibt. Das ewige Licht leuchte, nehme ich an, und Gott ist das Licht, er führt uns durch die Dunkelheit, und im Grab ist es besonders dunkel. Andererseits steht die Flamme auch für die erleuchtete Seele, aber die ist nicht im Grab und nicht auf dem Friedhof. Wo sie ist, weiss niemand genau, wahrscheinlich heimgekehrt zu Gott im Himmel, wobei das dauern kann, meistens schmorren die Seelen erst noch im Fegfeuer, und auch da ist der genaue Ort nicht bekannt. Ist es unter der Erde oder über der Erde oder einfach irgendwo in den Lüften? Die Meinungen sind geteilt. Schon mehr weiss man über den Aufenthalt der Armen Seelen. Sie sind immer noch unter uns, man hört sie in dunklen Nächten jammern und stöhnen; wenn man ihnen helfen will, muss man für sie beten, dann kommen sie endlich zur Ruh.
Hape
Das Wort Friedhof soll von umfrieden kommen, also umzäunen, nicht von Frieden, wie man annehmen könnte – endlich hat man Frieden –, wobei man natürlich hinter einem Zaun seinen Frieden hat vor dem Rest der Welt. Ein Hof ist dieser Friedhof auch keiner, sondern eine Parkanlage mit Wiesen und Rasenflächen und Bäumen. Birke, Ahorn und Buchsbaum, den man ja auf allen Friedhöfen antrifft, wahrscheinlich symbolisiert er etwas. Auch Trauerweiden gibt es, was die symbolisieren ist klar. Und Thuja-Bäume, eine ganze Allee.
Friedhof heisst es auf Deutsch, in den romanischen Sprachen, cimiterio, cimetière, cementerio, was nichts mit Zement zu tun hat, ausser vielleicht insofern, als in diesen Ländern manchmal grosse Grabplatten auf die Gräber gelegt werden, so als hätte man Angst, die Toten könnten wieder aufstehen oder auferstehen. Auch Grabhäuschen gibt es in diesen Ländern und ganze Grabhäuser, damit sich die Toten wohlfühlen, falls sie es doch tun, aufstehen nämlich.
Richtig grosse Friedhöfe nennt man auch eine Nekropolis; in Samarkand habe ich so eine gesehen. Ein Mausoleum neben dem andern, eine Stadt der Toten, leer und ausgestorben, im wahrsten Sinn. Vor allem Timurs Grabstätte selber war ein eigentlicher Palast, eine Prachtentfaltung und Machtentfaltung über den Tod hinaus. Timur, der bei uns auch der Schreckliche genannt wird. Eine durchaus diesseitige Prunkentfaltung, obwohl diese Prachtbauten, wie ich später las, nur eine Vorahnung auf das Paradies geben sollten.
Totenstädte und Totenhäuser: Früher soll man, ich weiss nicht mehr wo, die Verstorbenen auch unter der Schwelle des eigenen Hauses bestattet haben, so dass man die Gebeine der Ahnen immer bei sich hatte. Wie übrigens auch die Nachgeburt vor dem Haus begraben wurde, weil sie eine Art Zwilling war von der Person, die geboren worden war.
Hape
Ich frag mich, wie die Menschen darauf gekommen sind, ihre Toten zu begraben. Ich meine ganz am Anfang, als sie damit begannen. Was für Vorstellungen steckten dahinter, damals. als es noch keine Schrift gab und heilige Bücher. Man wollte die Toten vor den wilden Tieren schützen, sagt man. Aber warum? Die waren ja tot. Wie kam man darauf, dass man ihre Totenruhe schützen musste? Und warum gab man ihnen später Essen, Schmuck und Waffen mit ins Grab? Wenn man den Toten mit Schmuck begräbt, mit Waffen, dann heisst das, dass er das braucht. dass er weiterlebt. Wo? Dort in der Erde? Oder in der Luft?
Und wie kam man auf die Idee, dass er weiterlebt?
Na vielleicht einfach, weil man ihnen wieder begegnet, in den Träumen, in den Erinnerungen, bei irgendwelchen Tätigkeiten, schon erinnert man sich an sie, hat man ihr Bild vor Augen. Hört sogar ihre Stimme. Also müssen sie doch noch irgendwo da sein. Irgendwo da oben in der Luft oder da unter der Erde.
Also, wie war das, wie muss man sich das vorstellen?
Wir können nur raten.