Anne von Ramschwag
«Als lûter als ein cristal»
Vita
Als Anne von Ramschwag ins Kloster Sankt Katharinental kommt, ist sie noch ein Kind. Als sie 1343 stirbt, hat sie bis auf wenige Jahre ihr Leben im Kloster verbracht, in einem geschlossenen, notabene.
Es fällt einem schwer, sich das vorzustellen.
Warum ihre Eltern Anne schon im Kindesalter ins Kloster gaben, wissen wir nicht. Wenn es die Absicht der Eltern war, sich dadurch die Vergebung der Sünden und einen Platz im Himmel zu sichern, dann hatten sie Erfolg, zumindest was den Vater betrifft.
Denn an einem Freitag in der Fastenzeit, als Anne in die Betrachtung der Martern unseres Herrn versunken war und mit ihrer Liebe die süssen Wunden Jesu so tief in sich zog, dass es ihr an aller Kraft gebrach, sprach eine Stimme zu ihr: Steh auf und rufe in die offenen Wunden unseres Herrn, dass er deinem Vater die Tür zum ewigen Leben öffnen soll. Da stand sie auf und rief mit aller Energie, deren sie fähig war in die Wunden unseres Herrn. Und als sie am Abend im Bette lag, da sah sie eine weisse Wolke über dem Bette, und in der Wolke einen kleinen Mann. Es war, wurde ihr gesagt, die Seele ihres Vaters auf dem Weg ins Paradies.
Schwesternbuch Töss, (gemeinfrei)
Am Anfang tat sich Anne schwer. Sie lernte nicht gern, hatte Mühe still zu sitzen. Das änderte sich, als ihr eines Tages zwischen den Seiten ihres Lesebuches das Jesuskind erschien, nackt und bloss, und sie ermahnte.
Fortan lernte sie von Herzen gern. Ging auf an Tugend. Nahm zu an Gnaden. War bald ein lûter Mensch; ein Mensch, der leuchtet.
Das ging nicht ohne Leid, nicht ohne Selbstkasteiung. Anne war oft krank, lag siech danieder. Ihr Herz war dann wie tot. Und bereit für grosse Gnaden.
Eine Mitschwester, die nach Anne schaute, als sie wieder einmal krank danieder lag, fand sie über dem Bett schwebend, in Tränen aufgelöst, glückselig.
Und Schwester Mie von Rethershouen, die mit Anne in der Kirche vor der Statue kniete, die zeigt, wie Johannes am Herzen Jesu ruht, sah, wie sie zu leuchten begann – als lûter als ein Kristal. Und das Leuchten dauerte an, solange sie vor der Statue kniete.
Apostel Johannes an der Brust Christi, Bodenseegebiet um 1310.
Bode-Museum Berlin (Skulpturensammlung Inv. 7950), erworben 1909.
(Wikipedia, gemeinfrei)
Figuren wie diese sollten den Nonnen helfen, eine persönliche Beziehung zu Gott und Christus zu entwickeln.
Bleibt die Gnade aus, ist alles trüb und kalt. Dann hintersinnt sie sich. Meint, dass sie nicht tut, wozu sie Gott geschaffen, meint, dass sie zu wenig tut, zu wenig fastet, zu wenig betet. – Zur dritten Stunde wurde Jesus ans Kreuz geschlagen, zur neunten Stunde öffneten sie seine Wunden, beim Hahnenschrei wurde er verraten. Daran muss man denken, unablässig, immerzu. Stunde um Stunde, Tag für Tag. Bei der Arbeit im Garten, beim Singen und Beten, in den Stunden des Schweigens. Und dabei die Gebete sprechen, das Vespergebet, das Abendgebet, das Morgengebet. Die Psalmen, Hymnen, Litaneien. Wort für Wort, Zeile für Zeile, alleine für sich oder gemeinsam im Chor.
Erst wenn alle Kräfte schwinden, wenn man nichts anderes mehr sieht, nichts anderes mehr hört, an nichts anderes mehr denkt als an die Martern Jesu, dann gelangt man ins Licht. Dann ist man im Zustand der Gnade.
Das Ziel des klösterlichen Zusammenlebens, das darin bestand, sich mit Hilfe der Ordensregeln in der Nachfolge Christi zu üben und seine Leiden nachzuempfinden, war – dem hohen Ziel gemäss – nicht anders zu erreichen als durch einen steten Kampf gegen die eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten.
Aber so sehr Anne sich bemühte, immer hatte sie das Gefühl, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein und die Zuneigung Gottes nicht zu verdienen. Wenn ich bete, sagte sie zu einer Mitschwester, fühle ich mich unter jeder Kreatur. Denn jede Kreatur macht das, wozu sie Gott geschaffen. Ich aber, die Gott dazu geschaffen hat, ihm nachzueifern, bin schwach und schaffe es nicht.
Als sie wieder einmal, betrübt über ihr Unvermögen im Chor beim Gebete war, wollte der Herr sie nicht ungetröstet lassen, und er erschien ihr als Kind mit einem Korb voll Blumen. Die streute er vor ihr aus und sprach: Gib mir deins, dann gebe ich dir meins und meinte ihre Herzen damit. Anne lachte und sprach: Herr, ich bitte dich, bring mich nicht ins Gerede, nicht mich und auch nicht dich selber.
Da nahm das Kind eine Rose und warf sie ihr zu. Anne fing die Rose und drückte sie sich ins Herz. Seither brannte ihr Herz: in lûter Minne, in hitziger Begier.
Christus-Johannes-Gruppe, Fragment aus dem Graduale von St. Katharinental.
Unbekannter Künstler, wohl Konstanz.
St. Katharinental bei Diessenhofen, 1312.
Pergament mit Deckfarbenmalerei,
Schweizerisches Nationalmuseum Zürich.
Es blieb nicht aus, dass ihre Mitschwestern zu fragen begannen und wissen wollten, was sie denn nun sehe und erfahre, wenn sie im Licht und in der Gnade war.
Darüber sprach sie nicht gerne, wusste nicht, wie sie es anstellen sollte. Und wenn sie darüber sprach, dann sprach sie von so hohen und unbeschreiblichen Dingen, dass die Schwestern sie nicht verstanden. Da sie leider, wie die Chronistin schreibt, des Lichts nicht teilhaftig waren, das Anne zu verstehen und empfangen und zu geniessen gegeben ward.
Wie an jenem Osterheiligtag, als sie uffgezogen wurde in ein göttlich Licht. Und in dem Licht da öffnete sich ihr Leib. Und in ihrem Leib, da sah sie zwei Kindlein, die hielten einander umfangen. Und es wurde ihr in diesem Gesicht zu erkennen gegeben, dass das eine Kind unser Herr und das andere ihre Seele war. Dann schloss sich ihr Leib wieder.
Oder an einem Tag an Pfingsten. Da sah sie eine Kugel aus reinem Feuer. Und die Kugel schwebte herab und kam ihr so nah, dass sie Feuer und Flamme war. Und in der Kugel sah sie unsern Herrn als Kind und wie er dann war, als er dreissig war.
Und der Herr sprach zu ihr: Ich war ein kleines Kindlein und bin der alte Gott, den du in allen Sachen findest.
So wie es dann geschah an einem Tag im Mai. Da sah sie die Bäume und Wiesen so glückselig grünen und blühen. Und sie richtete ihre Betrachtung auf die Kreatur und sie sah, wie alle Dinge aus Gott geflossen, und wie alle Kreatur ihr Wesen und Leben aus Gott empfängt, und so suchte sie Gott in der Kreatur.
Graduale von St. Katharinenthal, Faksimile.
Das geistliche Gesangsbuch mit Notation entstand 1312.
Für den Chor waren sehr große Bände notwendig, aus denen man selbst aus größerer Entfernung noch gemeinsam singen konnte. Die 628 Seiten (314 Blätter) haben ein Format von 48,0 x 35,0 cm.
Explicatio (Erklärung)
Von den Frauen, die im Laufe des 14. Jahrhunderts im Kloster St. Katharinental bei Diessenhofen versuchten, ein gottgefälliges Leben zu führen, standen nicht wenige im Ruf der Heiligkeit.
Ihre Lebensgeschichten finden sich aufgezeichnet im St. Katharinentaler Schwesternbuch.
Die Geschichte von Anne von Ramschwag ist eine von ihnen.
Anne war eine Oblatin, das heisst, ein Geschenk ihrer Eltern an das Kloster oder Gott den Allmächtigen, wenn man so will.
Sie stammte aus dem Geschlecht der Ritter von Ramschwag, das soviel ich weiss, seit frühen Zeiten in den Diensten des Abtes von St. Gallen und in den Diensten der Habsburger stand. Einer von ihnen, Heinrich Walter von Ramschwag soll 1278 dem Habsburger Rudolf in der Schlacht auf dem Marchfeld das Leben gerettet haben, immerhin.
Ihre Burg stand auf einem Felsen über der Sitter, die Ruinen sind heute noch zu sehen.
In den Ruinen habe ich als Kind gespielt.
Eingang zur Burgruine Ramschwag, Gemeinde Häggenschwil SG
Und vor der Statue, vor der Anne zu leuchten begann, bin ich selber gestanden (wenn es denn die Statue war), in der Klosterkirche zu Sankt Katharinental in Diessenhofen.
Ich hatte kein mystisches Erlebnis, war aber trotzdem bewegt. Ich stellte mir Anne vor, wie sie auf dem Steinboden kniete, unbeweglich, selbstvergessen. Klein, schmal, ausgezehrt vom Wachen und Fasten.
Es ist schwer, all das nachzuvollziehen, was im St. Katharinenthaler Schwesternbuch über das Leben von Anne gesagt wird. Es ist auch nicht aus erster Hand, was da gesagt wird, es wurde von einer Chronistin aufgeschrieben, deren Bericht zweihundert Jahre später nochmals überarbeitet wurde – von einem Mann.
Vieles, was über ihre Erlebnisse gesagt wird, findet man fast wörtlich auch in anderen Berichten, und oft scheint es so, als ob sie mit ihrer Person und ihrem Körper das inszeniert hat, was die Denker und Schreiber ihres Ordens in ihren philosophischen Spekulationen beschreiben.
Wie dem auch sei: Alles, was wir über Anne wissen, wissen wir von ihrer Chronistin. Sie versichert, dass alles so geschehen ist, wie sie es berichtet. Dabei trieben sie auch Zweifel um. War das, was Anne sah und hörte überhaupt von Gott gesandt, oder waren es Einflüsterungen des Teufels?
Und darum ging die Chronistin nach dem Tod von Anne zu Hugo von Stoffenberg, der Lesemeister zu Konstanz und Seelsorger im Kloster war. Der sagte ihr: Anne hat mir viel erzählt von ihren inneren Übungen und was Gott mit ihr gemacht hat. Und in allem, was sie mir je gesagt, konnte ich nie einen Irrtum finden, weil alles rein durch Gott geschah.
Sammelhandschrift des
15. Jahrhunderts aus dem Dominikanerinnenkonvent St. Katharina in St. Gallen.
Enthält das Diessenhofener
(= St. Katharinenthaler) Schwesternbuch.
Stiftsbibliothek St. Gallen. Cod. Sang. 603, zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts.
Es scheint, dass es der Krankheit bedurfte, einer allgemeinen Schwächung des Körpers, um jenen Zustand zu erreichen, den die Chronistin den Zustand der Gnade nennt. Ein Zustand, in dem Anne von Gefühlen überwältigt wurde, die nicht anders als mit dem Wort glückselig (lûtsälig) umschrieben werden konnten.
Aber Krankheit alleine genügte nicht.
Schwester Hilti zum Beispiel, die auch viel litt an Leib und Seele, kam nicht in den Genuss der Gnade. Weil sie sich in ihrer Jugend nicht genug trûkte, wie ihr beschieden wurde, als sie sich im Gebet an Gott den Allmächtigen wandte.
Anne aber trûkte sich sehr. Was ist mit trûken gemeint?
Endloses Beten, ausgedehntes Fasten, Schlafentzug?
Um so den Körper in jene Erschöpfungszustände zu treiben, während deren es Anne – an aller Kraft gebrach. Sie also ohnmächtig wurde. Das Bewusstsein verlor. Einmal war Anne vierzehn Tage im Licht, bis sie wieder zu sich kam.
Offenbar ist man nicht bei sich, wenn man im Licht und im Zustand der Gnade ist. Man ist ausser sich. Die Schranken fallen, die das Ich zusammenhalten, man ist eins mit der Welt, mit der Natur, mit den Dingen. So wie es damals geschah an einem Tag im Mai. Als Anne die Bäume und Wiesen so glückselig grünen und blühen sah.
Oder aber man ist dann erst richtig bei sich, wird eins mit sich selber. Wie Meister Eckhart sagt: Man muss aufhören, von sich wegzustreben in die Welt, man muss in sich gehen und den Funken in der Seele finden, das Licht, das alles erhellt. Dann sieht man alles, wie Anne sagt, erfährt alles, was man wissen will. All die hohen Dinge, über die ihre Ordensbrüder spekulieren und phantasieren: Eckhart, Seuse, Thomas, Albert der Grosse. Sie hat sie gesehen, am eigenen Leib erfahren: Wie das Viele sich aus dem Einen ergiesst, wie Gott und die Seele eins sind. Sie hat das Feuer des Heiligen Geistes gesehen, und auch den Funken in ihrer Seele hat sie gesehen.
Was soll man weiter dazu sagen, es ist ein weites Feld, wie mal einer sagte.
Und die Erklärungen verklären mehr als sie erklären.
Dass Anne nach endlosen Busübungen und stundenlanger Versenkung Stimmen hörte und Lichterscheinungen hatte, kann ich mir vorstellen. Und dass sie sich dann schwerelos fühlte, durchsichtig, der Schwerkraft enthoben.
Aber wie soll man erklären, dass auch ihre Mitschwestern sie leuchten sahen und aufgelöst über dem Bette schweben?
Ruine Alt-Ramschwag in Häggenschwil
Post Scriptum II
Dass Anne auf dieser Burg geboren wurde, ist nicht gesagt, obwohl es mir gefallen würde. Es gibt auch Ableger der Familie, samt Burgen, jenseits des Bodensees.
Post Scriptum I
Die Burgruine Ramschwag zerfällt, der Aufenthalt dort ist gefährlich, sagen die Behörden. Im Moment werden Spenden gesammelt für eine Restaurierung.
Post Scriptum III
Publikation des Schwesternbuchs:
Ruth Meyer: Das St. Katharinentaler Schwesternbuch. Untersuchung, Edition, Kommentar (= Münchener Texte zur deutschen Literatur des Mittelalters, Band 104). Niemeyer, Tübingen 1995, ISBN 3-484-89104-1