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Wieder ein Altar

an einer Strassenecke, wie ein Briefkasten in die Hauswand eingefügt. Es ist schon der dritte, dem ich in den letzten Minuten begegne, überall stehen sie, in Innenhöfen, an Strassenecken, in Treppenaufgängen. Hier ist es wieder einmal Maria, die Mutter Gottes (wo bleibt eigentlich Josef?), die in Form einer Statuette in ihrem Schrein steht, Tag und Nacht mit Neon beleuch- tet und mit Plastikblumen geschmückt. Maria, die Mutter Gottes, die immer helfen kann und schon oft geholfen hat und wieder helfen soll. Aber sie ist nicht die Einzige, die helfen kann, da ist auch Padre Pio, der überall anzutreffen ist, und sei es nur in der Grösse eines Heiligen- bildchens, wie man es früher vom Pfarrer geschenkt bekam. Und da sind auch die anderen Heiligen, die verteilt in der Stadt auf ihren Säulen stehen und auf die Auferstehung warten, Gennaro, Benedikt und Kumpanen. Die schiere Masse an Kreuzen, Heiligen und Altären muss unbedingt ihre Wirkung haben, wie sonst soll man es sich erklären, dass diese Stadt am Fusse des Vesuv immer noch dasteht, putz und munter, als wäre nichts geschehen, kein Erdbeben, kein Bankrott und auch kein Bauboom rund um die Altstadt, der sie zu ersticken droht. Wie ist das christenmöglich? Die Stadt ist fest in Gottes Hand und in der Hand von vielen Kirchen, an jeder Strassenecke steht eine, auf jedem Platz, und wenn irgendwo zwischen zwei Gebäuden eine leere Stelle war, wurde dort noch eine Kapelle gebaut.



Wenn ich jetzt

in der Falllinie hochsteige und die entsprechenden Durchstiege und Gässchen finde, müsste ich zur Certosa kommen, dem Kartäuserkloster auf dem Hügel. Nach oben, nach oben, da will jeder hin, und wenn es vorher nicht geht, dann wenigstens am Ende der Tage. Apropos Himmel; dem waren die Kartäuser da oben schon ziemlich nahe, und wenn nicht kosmisch- religiös, so wenigstens atmosphärisch, da genügt ein Blick in die Kirche, heiliger Bimbam, der farbige Marmor, die vergoldeten Stuckkaturen, wenn sich da Gott der Herr nicht wohlgefühlt hat, damals, als das alles noch in Betrieb war, und die Zimbeln zimbelten und die feinen Stimmen der Chorknaben klangen. Die Räumlichkeiten des Priors sind jetzt leergeräumt, das Kloster aufgelöst. Aber im Hof steht noch immer eine vergoldete Kutsche, von der man sich fragt, wie die überhaupt bewegt werden konnte, und dann noch den Hügel hinauf und hin- unter, aber immerhin fuhren hier ja die Stellvertreter Gottes und warum sollte nicht etwas von der göttlichen Strahlkraft auch von ihnen ausgehen, sie waren ja keine Franziskaner.

Die ganze Anlage atmet noch immer Hochstimmung und himmlisches Lebensgefühl, und die Aussicht auf den Golf von Neapel und die Stadt ist atemberaubend. Und hätten die Kartäuser nicht schon ihre eigene Theorie über die Entstehung der Erde gehabt und darüber, woher die Menschen kommen, der Prior hätte von seiner Loggia aus freien Blick auf zwei Spielfelder der Evolution gehabt (und wohl auch die Zeit zum Sinnieren): das Feuer des Vesuvs und die Tiefe

des Meeres.

Im Vergleich zur Unermesslichkeit des Meeres ist die scheinbar uralte Stadt mit ihren durch- einander wuselnden Menschen auf jeden Fall nur ein Fliegenschiss, ein Klacks, eine vorübergehende Störung.